Plötzlich Mutmacher für kleinste Patienten

Plötzlich Mutmacher für kleinste Patienten

Thomas hilft kleinen Patienten mit Amnionbandsyndrom und deren Eltern. Foto_ Privat

Plötzlich Mutmacher für kleinste Patienten

Thomas ist 34 Jahre alt, stolzer Papa zweier gesunder Kinder, glücklicher Ehemann und betroffen vom Amnionbandsyndrom, ABS. Doch die Missbildung seiner Finger und mehrere frühkindliche Operationen – unter anderem zur Rettung seines Beines -, haben ihn nie ausgebremst. Thomas ist ein absoluter Optimist und engagiert sich heute in einem Verein als Pate für betroffene Kinder mit Amnionbandsyndrom. Dort steht er ihren Eltern und den Kleinen mit seinen Erfahrungen als Mutmacher zur Seite.

Auf der Suche nach Schicksalgefährten

Eigentlich war Thomas auf der Suche nach anderen Betroffenen, wie er sagt. Immer mal wieder beschäftigte ihn diese in seinem Leben. Gefunden hat er bis heute weder betroffene Erwachsene noch Selbsthilfegruppen, die sich auf das Amnionbandsyndrom spezialisiert haben. Der Bundesverband zur Begleitung von Familien vorgeburtlich erkrankter Kinder e.V., kurz BFVEK e.V., hat diese Erkrankung jedoch in sein Spektrum aufgenommen. An dem Verein interessierte sich Thomas sofort für das Patenprogramm. Es ermöglicht ihm, Familien beizustehen, denen es heute so geht wie seiner eigenen vor 34 Jahren.

Als Thomas 1987 geboren wurde, rechneten weder seine Eltern noch die Ärzte damit, dass er nicht gesund sein würde. Seine pränatalen Untersuchungen hatten keine Auffälligkeiten gezeigt. Dennoch kam Thomas mit Missbildungen an den Fingern und einer schwerwiegenden Abschnürung oberhalb seines Knies zur Welt, die für sein Bein schlimmstenfalls eine Amputation hätte bedeuten können. Ursächlich für beides war ein Amniotisches-Band-Syndrom1, auch ABS genannt. Es tritt schätzungsweise bei einem von 10.000 – 15.000 Neugeborenen auf.

Betroffen sind häufig Finger und Zehen

ABS bezeichnet angeborene Geburtsschäden, bei denen stark klebende Schnürringe die Körperteile eines Fötus im Mutterleib abschnüren. Die Abschnürungen können Extremitäten wie Finger, Arme, Zehen oder Beine betreffen, aber auch innere Organe, die Nabelschnur oder den Kopf des Kindes. Im besten Fall gefährden Amnionbänder Föten nicht, doch manchmal verfangen sie sich in ihnen. Dann wird entweder das Wachstum des eingeschnürten Bereichs verhindert, oder er stirbt sogar ab. In harmlosen Fällen hingegen sind an den betroffenen Körperstellen nach der Geburt nur minimale Schnürfurchen zu sehen. Heute sind Operationen auch im Mutterleib schon möglich, um die Bänder im schlimmsten Fall zu zerschneiden. Dafür müssen sie jedoch rechtzeitig entdeckt werden. 

Ein Feinultraschall kann Klarheit bringen

Als Thomas vor einigen Jahren selbst zum ersten Mal Vater werden sollte, besprach er seine eigene vorgeburtliche Erkrankung mit den zuständigen Ärzten. Zwar konnte keine genetische Ursache für das ABS festgestellt werden. Doch Thomas und seine Frau konnten erreichen, dass während der Schwangerschaft ein sogenannter Feinultraschall durchgeführt wurde, auf dem sich das ABS leichter erkennen ließe. Glücklicherweise kamen Thomas‘ Kinder beide gesund auf die Welt. Er selbst sprach während dieser Zeit viel über das Thema. Auch mit seinen Eltern hat er oft und schon als Kind über seine Missbildungen an den Fingern geredet. Für ihren Rückhalt und ihre Stärke ist er ihnen dankbar. „Kinder können grausam sein“, sagt er. Manchmal machte er schlechte Erfahrungen mit abfälligen Kommentaren Gleichaltriger. Doch seine Eltern unterstützten ihn, ließen nicht zu, dass er sich wegduckte. Außerdem, sagt er, war er ein Dorfkind, „da konnte man nicht ausweichen, man musste miteinander klarkommen.“

Operation am Säugling erfolgreich

Kaum ein Fall des Amnionbandsyndroms ähnelt dem anderen. In Thomas‘ Fall bereitete seinen Ärzten die Schnürung seines Oberschenkels Sorgen. Denn mit jedem Wachstumsschub, den der Säugling machte, drohte sie die Blutversorgung seines Beins zu unterbinden. Von außen sichtbar war das Amnionband nicht, erzählt Thomas. Die Ärzte reagierten noch vor seinem ersten Geburtstag und entfernten die Abschnürung am Bein vollständig. Eine große Narbe am Oberschenkel zeugt heute noch von diesem operativen Eingriff.

Immer wieder verbrachte Thomas mehrere Wochen seiner ersten Lebensjahre im Klinikum rechts der Isar in München. Dort trennten die Chirurgen in mehreren Operationen auch seine verwachsenen Finger voneinander. Acht funktionierende Finger besitzt er seither. Die Prognosen für sein zunächst abgeschnürtes Bein sahen damals nicht annähernd so gut aus. „Der Arzt sagte meiner Mutter, ich würde vermutlich nie normal gehen können“, erinnert sich Thomas aus Gesprächen mit seinen Eltern. Als er jedoch schon früh mit dem Fußballspielen begann, stellte sich das ehemals betroffene Bein sogar als sein „starker Fuß“ heraus. Von einer Gehbehinderung war nie etwas zu merken. Thomas läuft heute Halbmarathons.

“Ich kenn’s nicht anders.”

Ob er als Kleinkind physiotherapeutische Unterstützung erhielt, weiß er nicht mehr. Aber er erinnert sich an den hingebungsvollen Halt seiner Eltern, daran, dass sie ihn mit feinmotorischen Spielen förderten, ihn nicht aufgeben ließen. Auch in der Schule hat er sich nie großartig anders behandelt gefühlt. Vor dem ersten Volleyballtraining nahm ihn mal der Lehrer zur Seite und fragte: „Kannst du das mitspielen?“ und auf der Klaviatur im Musikunterricht konnte Thomas einige Griffe mit seinen Fingern nicht darstellen. Eingeschränkt oder weniger fähig hat er sich aber seiner Erkrankung wegen nie gefühlt. Im Gegenteil:  

Als im Masterstudium eine Kommilitonin bei einem Unfall ihre oberste Fingerkuppe verlor, erfuhr er dadurch erst, dass er an seinen Klausuren länger hätte schreiben dürfen, weil auch seine Schreibhand betroffen war. Er hätte nur einen Antrag stellen müssen, was er aber auch im Nachhinein nicht tat, da sein Studium zu dem Zeitpunkt beinahe beendet war. Außerdem, so Thomas, war die Situation für die Kommilitonin eine neue, gewöhnungsbedürftige, für ihn aber nicht. „Ich blicke immer zurück und denke: Ich kenn’s nicht anders“, sagt er über sein Leben. Dass er als schwerbehindert gilt, zeigt ihm nur der entsprechende Ausweis. Thomas selbst fühlt sich nicht annähernd so.  

Ein Mutmacher für kleine Betroffene und ihre Eltern

Natürlich weiß der junge Vater, dass andere Menschen seine besonderen Finger sehen. Für seine zwei- und vierjährigen Kinder spielen sie zwar noch keine Rolle. Thomas sagt aber, er sei gespannt, wann sie ihn zum ersten Mal danach fragen. Damit bei Begegnungen mit Anderen keine Missverständnisse oder unangenehme Situationen auftreten, geht er offensiv mit dem Thema um. Neue Kollegen zum Beispiel informiert er von vornherein über die Ursache seiner Besonderheit.  

Manchmal, erklärt er, rutschen Menschen zum Beispiel beim Handreichen an seinen Fingern ab, weil die gewohnte Griffigkeit fehlt. Eine besondere erste Begegnung dieser Art ist für Thomas daher die mit seiner heutigen Ehefrau. „Sie hat nicht einmal bemerkt, dass meine Hände anders sind“, erzählt er lachend. Vielleicht lag es daran, dass sein Optimismus und sein aufgeschlossenes Wesen alle anderen Eindrücke übertrafen. Immerhin helfen sie ihm heute auch, den vom Amnionbandsyndrom betroffenen Familien beim BFVEK e.V. ein guter Mutmacher zu sein. 

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